Sachlich, wertschätzend, respektvoll – so wünschen wir uns zielführende Diskussionen über kontroverse und alltägliche Themen. Die Realität sieht oft anders aus. Aber warum? Gerade im Diversity-Kontext geht es in Diskussionen häufig um Kritik am diskriminierenden Verhalten anderer. Kritisieren diese Anderen dann den Tonfall der Kritisierenden, wird ihnen zuweilen Tone-Policing vorgeworfen – also eine Strategie zu fahren, die das kritisierende Gegenüber verstummen lassen soll. Was genau es mit dieser sogenannten Silencing-Strategie auf sich hat, warum zum guten Ton auch Dissonanzen gehören und wie du damit umgehst, erfährst du hier. Am Ende des Beitrags verlinke ich dir wie immer noch ein paar Quellen und andere Stimmen zum Thema!
Was ist Tone-Policing?
Für diejenigen, die es noch nie erlebt haben, ist es gar nicht so einfach, die Problematik hinter Tone-Policing zu verstehen. Deshalb will ich es dir an einem Beispiel erläutern, das deinem Alltag vielleicht näherliegt: Stell dir mal vor, jemand fährt dir eine fette Beule in dein Auto. Wie reagierst du?
a. Du steigst mit hochrotem Kopf aus dem Auto und faltest den*die Verursacher*in erstmal verbal zusammen.
b. Du fluchst innerlich, bleibst aber nach außen hin gelassen – die Situation ist zwar nervig, aber du kannst jetzt eh nichts mehr daran ändern.
c. Du steigst freudestrahlend aus dem Auto, klopfst dem*der Verursacher*in auf die Schulter und sagst: „Lass uns die Sache als Chance sehen – beim nächsten Mal weißt du es besser und machst den Fehler nicht nochmal!“
Herzlichen Glückwunsch, wenn du c. ankreuzen würdest! Du bist echt gelassen. Aber mal im Ernst: Welcher fühlende Mensch geht 24/7 so durchs Leben? Und was passiert, wenn die Person, die die Beule verursacht hat, alles abstreitet? Sie sagt: „Ach, das ist doch nur ein kleiner Kratzer. Stell dich nicht so an und fahr weiter.“ Nun stell dir mal vor, du bekämst dasselbe dann auch von der Polizei oder deiner Versicherung zu hören: „Das Auto fährt doch noch, wo ist Ihr Problem? Stellen Sie sich mal nicht so an.“
Du versuchst immer weiter, eine Person zu erreichen, die dir zuhört und sich um dein Problem kümmert. Aber es funktioniert einfach nicht. Früher oder später reißt dir schließlich die Hutschnur: Du nimmst das Telefon in die Hand und brüllst die Person am anderen Ende an – du willst jetzt endlich eine*n Verantwortliche*n sprechen! Dein Gegenüber reagiert entrüstet: „In dem Ton reden Sie schonmal nicht mit mir. Benehmen Sie sich wie ein zivilisierter Mensch, dann hört Ihnen auch jemand zu!“
Genau so funktioniert Tone-Policing. Du hast bereits unzählige Male versucht, freundlich mit den Verantwortlichen zu kommunizieren – aber es hat einfach niemand zugehört. Kein Wunder also, dass du deshalb jetzt lauter schreist.
Tone-Policing im Diversity-Kontext
Während du vermutlich nicht jeden Tag eine Beule ins Auto gefahren bekommst und das obige Beispiel hoffentlich eher unrealistisch ist, geraten viele gesellschaftlich benachteiligte, also marginalisierte Menschen regelmäßig in Situationen, in denen sie nicht gehört werden. Deshalb ist Tone-Policing auch so ein großes Thema in der Diversity-Blase. Wer nicht der privilegierten gesellschaftlichen Normvorstellung entspricht, muss sich immer wieder erklären und stetig darum kämpfen, genauso behandelt zu werden, wie privilegiertere Menschen auch.
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Diversity-Aktivist*innen wollen auf diese Unterschiede aufmerksam machen und somit Chancengleichheit für alle bewirken. Obwohl es immer wieder auch Errungenschaften gibt, gleicht diese Arbeit doch einem Kampf gegen Windmühlen. Denn: Viele Menschen in Machtpositionen, die etwas ändern könnten bzw. für die Ungleichheit verantwortlich sind, hören nicht zu und nehmen Aktivist*innen und Betroffene nicht ernst. Zumindest nicht, wenn sie ruhig, ausdauernd und verständnisvoll die immer gleichen Hinweise herunterbeten. Ich bin ja selbst nicht gerade von der lauten wütenden Sorte – und werde für meine Arbeit oft belächelt.
Wie sie’s macht, ist’s falsch: Wer auf die sanfte Tour nicht gehört wird, das eigene Anliegen aber für unverzichtbar hält, haut irgendwann auf den Tisch und lässt ein Donnerwetter losbrechen! Dann werden die Belächelnden zur Tonfallpolizei und tun so, als würden sie unter der Bedingung eines freundlicheren Tons jederzeit zuhören!
Ins Gespräch und in die Mainstreammedien finden viele Diversity-Themen leider nicht dank wertschätzender Diskussionen, sondern eher durch Shitstorms im Internet – seien es #aufschrei, #metoo, #metwo usw. Als eine, der respektvolle und wertschätzende Kommunikation am Herzen liegen, würde ich mir das auch anders wünschen. Aber daran können nicht Aktivist:innen und Betroffene etwas ändern, sondern nur die Privilegierten und Mächtigen – indem sie gleich beim ersten Mal zuhören. Und nicht erst, wenn es schon zu spät ist.
Teste dich: Betreibst du Tone-Policing?
Tone-Policing wird von Aktivist*innen auch als Silencing-Strategie bezeichnet – also ein bewusstes Vorgehen, um das Gegenüber zum Schweigen zu bringen. So etwas würdest du natürlich niemals tun, denkst du jetzt, oder? Hmm, lass uns mal überlegen… Jemand kritisiert dich in harschem Ton und verurteilt deine Aussagen als diskriminierend.
Du:
- fühlst dich daraufhin angegriffen.
- bist entrüstet.
- kannst nicht glauben, dass sich die Person so etwas herausnimmt!
- stehst doch auf der richtigen Seite und bist eine*r von den Guten!
- weißt nicht, was du jetzt sagen sollst …
- ganz ehrlich, die Person spinnt doch!
Und dann sagst du: „Ey, kannst du das auch netter sagen?“ Vielleicht wolltest du deinem Gegenüber gar nichts Böses. Aber du wolltest auch nicht hören, was es dir zu sagen hatte. Du wolltest die Konversation möglichst schnell beenden und dich nicht mit dem Gesagten auseinandersetzen. Erwischt? Jepp, du hast Tone-Policing betrieben!
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Gut gemeint und doch nicht ganz in Ordnung
Aber es kann natürlich auch anders laufen. Vielleicht bist du eigentlich total an der Diskussion interessiert, möchtest verstehen, wo das Problem lag, und bist bereit, zuzuhören! Aber dir ist eine sachliche und wertschätzende Kommunikation wichtig und genau das sagst du dann auch: „Ich würde gerne verstehen, was du meinst, aber können wir das bitte auf einer sachlichen Ebene ausdiskutieren?“
Auch das kann einen Tone-Policing-Vorwurf nach sich ziehen. Denn du bist sicher nicht die erste Person, die dein Gegenüber auf diesen Fehler hinweist – sondern vielleicht die fünfte an nur einem Tag! Und die anderen sind vielleicht mehr so von der „Ey, was mit dir los?“-Sorte gewesen. Boah, schon wieder so eine, die mir nicht zuhört, denkt dein Gegenüber jetzt vielleicht. Schließlich kann es nicht wissen, dass du ihm eigentlich wohlgesonnen bist.
Und weißt du was? Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass Menschen mit Diskriminierungserfahrungen nach dem fünften Mal einfach keine Lust mehr haben, alles noch einmal ganz genau und lieb und nett zu erläutern. Vor allem, wenn es sich um eine Privatperson handelt, die nicht beruflich Antidiskriminierungsarbeit leistet, solltest du das respektieren. Aber auch wer in der Branche arbeitet, hat begrenzte Ressourcen und muss Grenzen setzen.
Typische Tone-Policing-Aussagen
Selbst, wenn du es eigentlich gut meinst, betreibst du vermutlich ziemlich häufig unterbewusst Tone-Policing. Dann ist es vielleicht keine bewusste Strategie mit Kalkül dahinter. Es kann aber dieselbe Wirkung auf Betroffene haben. Viele typische Tone-Policing-Aussagen sind einfach schon tief in unserem Alltag verankert. Hier ein paar Beispiele:
- Beruhig dich erstmal, dann können wir weiterreden!
- In dem Tonfall schonmal gar nicht!
- Okay, aber können wir vielleicht auf einer sachlichen Ebene weiterdiskutieren?
- Die Leute würden dir viel eher zuhören, wenn du dich ein bisschen freundlicher ausdrücken würdest.
- Chill mal!
- Geht das auch netter?
- Du bist viel zu emotional!
- Musst du immer so wütend sein?
- Schrei nicht so, ich höre gut!
- Mit Freundlichkeit kommt man weiter im Leben.
Aber nicht nur Kritik am Tonfall lässt Betroffene verstummen. Auch wenn du mit anderen Aussagen vom Thema ablenkst, kann das als Tone-Policing gewertet werden oder sogar diskriminierend sein! Zum Beispiel, wenn du dich auf das Aussehen oder das Gewicht einer Person beziehst. Oder ihr sagst, dass du sie mit der Rechtschreibung schonmal gar nicht ernst nimmst. Mein Tipp: Konzentriere dich auf den Inhalt und weniger auf das „wie“ oder „wer“.
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Wie du Tone-Policing vermeidest und was du stattdessen sagen kannst
Puh, du hast bis hierher gelesen und möchtest jetzt definitiv damit aufhören, Tone-Policing zu betreiben! Doch wie gehst du stattdessen mit unsachlichen, wütenden Kommentaren um, die dich vielleicht sogar persönlich angreifen und verletzen?
Was mir grundsätzlich hilft – gerade in der Anonymität des Internets – ist, mir immer wieder bewusst zu machen, dass hinter der Tastatur auf der anderen Seite ja auch nur ein Mensch sitzt. Und Menschen sind nun einmal fühlende Lebewesen, keine emotionslosen Roboter. Das ist ja unsere große Stärke, in der wir Maschinen vermutlich immer überlegen sein werden: Wir führen echte, emotionale, menschliche Gespräche. Und ich finde es eigentlich ganz schön, wenn Gefühle im Spiel sind – helfen sie uns doch, nachzuvollziehen, nachzufühlen und besser zu verstehen, wie es der anderen Person geht.
Die Kunst ist, den Menschen und seine Aussagen in Kontext mit seinen Erfahrungen und seinem Erleben zu setzen. Und vor allem ist es wichtig, dass wir nicht alles auf uns persönlich beziehen – was zugegebenermaßen nicht gerade einfach ist. Doch in aller Regel sind wir nicht die erste Person, mit der unser Gegenüber diese Gesprächs- und Tone-Policing-Erfahrung macht. Gerade, wer viele Follower*innen und großen Einfluss hat, wird schnell zur Projektionsfläche. Allerdings bietet das auch die Möglichkeit, Themen in einem größeren Rahmen zu besprechen. Statt Tonfallpolizei zu spielen, kannst du also auch eine positive Lernerfahrung aus der ganzen Sache machen und sie mit anderen teilen – damit sie nicht denselben Fehler machen wie du.
Jetzt will ich dir aber noch drei konkrete Tipps ans Herz legen, die du statt des Tone-Policings umsetzen solltest.
1. Zuhören
Signalisiere deine Bereitschaft, zuzuhören. Wenn sich dein Gegenüber ernstgenommen und gehört fühlt, wird es vermutlich ganz von selbst einen anderen Ton anschlagen.
2. Ich-Botschaften senden
Sende Ich-Botschaften. Statt dich über den Tonfall der anderen Person aufzuregen, kannst du ihr mitteilen, wie du dich gerade fühlst: „Es fällt mir gerade schwer, dir zu folgen. Deine Aussage xy hat mich verletzt, weil ich yz erlebt habe. Ich versuche trotzdem, dein Feedback anzunehmen. Aber ich weiß nicht, ob ich der Diskussion gerade gewachsen bin.“
3. Bedanken und selbst weiterinformieren
Bedanke dich und informiere dich woanders weiter. Manchmal fällt es schwer, irgendetwas anderes zu sagen als: „Wie redest du denn mit mir? Der Ton macht die Musik!“ Du bist entrüstet, wütend, vielleicht verletzt. Und diese Emotionen blockieren deine Fähigkeit, aufrichtig zuzuhören. Atme tief durch und sage einfach nur: „Danke für dein Feedback! Ich werde mich in Zukunft eingehender mit der Thematik beschäftigen.“ Achtung: Das soll kein leeres Versprechen sein, um einfach nur das Gespräch zu beenden. Du solltest dich mit wieder klarem Kopf tatsächlich mit dem Feedback auseinandersetzen. Vielleicht klappt es besser mit einem Buch oder du findest eine Person, die emotional nicht so sehr involviert ist und dir das Thema sachlicher erklären kann.
Dieser Tipp ist übrigens eine ganz generelle Regel zum Umgang mit Feedback: Bedanken und für dich auswerten. Wenn du etwas nicht verstanden hast, kannst du nachfragen. Aber rechtfertige dich nicht und beschwere dich auch nicht über die feedbackende Person. Auch wenn es in dir kocht: Presse das „Danke“ zwischen deinen Zähnen hervor und lass deine Wut am besten an etwas aus, das nicht lebt.
Das wird nicht immer gelingen und das ist in Ordnung – vor allem in Situationen, in denen du selbst betroffen und emotional involviert bist. Ich will hier ja nicht ebenfalls Tone-Policing betreiben. Doch gerade, wenn du womöglich einen Fehler begangen, jemanden verletzt oder diskriminiert hast, ist Demut angesagt. Es geht für die anderen jetzt nicht um dich und deine Gefühle, sondern darum, gehört zu werden und zu erkennen, dass du deinen Fehler einsiehst und zukünftig anders handeln wirst.
Was Tone-Policing nicht ist
Die Möglichkeit, anderen Tone-Policing vorzuwerfen, ist natürlich keine Entschuldigung dafür, sich vorsätzlich respektlos zu verhalten und nur um des Pöbelns willen rumzupöbeln. Kritik am Tone-Policing zeigt uns, dass wir weniger privilegierten Menschen besser zuhören sollten – und zwar schon beim ersten Mal und nicht erst, wenn sie laut und wütend mit der Heugabel vor unserer Tür stehen. Umgekehrt ist es nicht in Ordnung, nur benachteiligte Menschen für ihren Tonfall zu kritisieren, während die Privilegierten immer sagen können, was sie wollen.
Letztendlich ist es jedoch am sinnvollsten und zielführendsten, wertschätzend und respektvoll miteinander zu kommunizieren. Das geht aber nur, wenn sich die Gesprächsteilnehmenden auch auf Augenhöhe begegnen können. Alle, die dazu in der Lage sind, können und sollen sachlich und ohne Beleidigungen diskutieren. Doch jeder Mensch hat auch Gefühle und es ist in Ordnung, oft sogar hilfreich, sie zu zeigen. Dass Emotionen manchmal unkontrolliert und ungefiltert aus uns hervorbrechen, ist schließlich vor allem eines: menschlich.
Eines ist mir zum Schluss noch wichtig: Auch wenn wir unterschiedlich stark für Diversity-Themen und wertschätzende Kommunikation sensibilisiert sind –
- Wir müssen zusammenhalten.
- Wir dürfen uns nicht spalten lassen.
- Wenn wir den Respekt voreinander verlieren, dann verlieren wir alles.
Wie versprochen findest du hier noch einige weitere Quellen zum Thema Tone-Policing. Möchtest du noch etwas ergänzen? Dann ab in die Kommentare damit!
Tone Policing: „Manchmal muss man sich im Ton vergreifen dürfen“ › ze.tt
No, We Won’t Calm Down – Tone Policing Is Just Another Way to Protect Privilege – Everyday Feminism