Sich selbstständig machen und gleichzeitig eine psychische Erkrankung oder Belastung haben? Das geht für viele nicht zusammen. Dabei ermöglicht eine Selbstständigkeit einigen Betroffenen gerade den Ausweg aus einem System, das ihnen nicht gut tut. Denn in der Arbeitswelt werden psychische Erkrankungen nach wie vor stigmatisiert, sodass sie oft verschwiegen werden.
So ähnlich war das auch bei Nora Stankewitz. Doch dann hat sie sich selbstständig gemacht – erst als Texterin und Redakteurin, nach vier Jahren schließlich als Coachin und Beraterin für Menschen mit Essstörungen. Sie arbeitet also mit Klient_innen, die sich in einer ähnlichen Lage befinden wie Nora vor einiger Zeit selbst. Das bringt Vorteile, aber auch Herausforderungen mit sich. Im Interview sprechen wir über Noras Arbeit, ihre persönliche Erfahrung mit psychischen Erkrankungen und ihre Wünsche an Medienschaffende und Contentkreierende.
1. Wie beeinflusst deine psychische Erkrankung oder Belastung deinen Alltag?
Nora: Weißt du, darüber habe ich lange nicht mehr nachgedacht. Zum einen wurde mir vor einigen Jahren eine atypische Magersucht diagnostiziert. Mein Eindruck heute ist, dass ich diese überwunden habe. Ich fühle mich gesund und nur wenn ich eine starke depressive Phase habe, klopft auch die Essstörung manchmal an, und bietet ihre Hilfe an.
Ein größeres Problem im Alltag ist meine rezidivierende Depression. Als Angestellte – ich bin heute auch deswegen selbstständig – hatte ich große Schwierigkeiten, mich mit dieser Symptomatik einzugliedern. Meine immer wiederkehrenden depressiven Phasen haben mir den sozialen Kontakt unheimlich schwer gemacht, acht Stunden zu arbeiten war für mich die Hölle, kaum schaffbar – aus Angst vor Ausgrenzung und finanzieller Not habe ich mich trotzdem immer hingeschleppt. Das Ergebnis war eine sogenannte Major-Depression inklusive totalem psychischem Kollaps.
Ganz ehrlich: Ich fühle mich völlig inkompatibel mit diesem (Wirtschafts-)System, in dem wir leben. Ich denke schon, dass das sehr stark mit meiner psychischen Vorbelastung zusammenhängt. Anyway: Ich habe immer seltener wirklich heftige depressive Episoden und habe mich familiär und arbeitstechnisch ganz gut eingerichtet, so dass ich gut leben kann.
Und zu guter Letzt wurde mir auch eine soziale Phobie diagnostiziert. Das heißt nicht, dass ich Angst vor Menschen hab, sondern vielmehr, dass ich Angst habe, von anderen negativ bewertet zu werden. Bis ich ungefähr 30 war, hat mir diese Erkrankung mein Leben streckenweise wirklich in allen Belangen sauschwer gemacht. Auch u. a. weil wir ja in allen Bereichen – auch schon als Kinder – bewertet und verglichen werden. Ich habe das dann auch nach der Schule einfach immer weitergemacht – das Vergleichen war mein größtes Unglück.
Ich denke die drei Erkrankungen zahlen aufeinander ein. Oder haben es. Ich fühle mich heute wirklich gesund und bei einem Diagnosebogen würden wahrscheinlich „nur“ noch Tendenzen feststellbar sein.
2. Heute bist du selbstständig. Hat die Selbstständigkeit einen Einfluss auf deine psychischen Erkrankungen? Oder haben diese umgekehrt einen Einfluss auf deine Selbstständigkeit?
Nora: Ich hatte schon als Kind den Traum, meine eigene Chefin zu sein. Tatsächlich habe ich mich erst nach meinem „großen Zusammenbruch“ selbstständig gemacht. Ich denke, dass meine Depressionen und meine Erkenntnis – auch durch die Erkrankungen – nicht system-kompatibel zu sein, schon sehr dazu beigetragen haben, dass ich diesen Schritt gewagt habe. Aber weißt du: Davon habe ich immer geträumt – ich sehe das positiv. Dennoch merke ich, dass ich mich trotz meiner Eigenbrötlerei nach professionellem, engem sozialem Kontakt sehne. Um dem zu begegnen – und auch neuen depressiven Episoden vorzubeugen (Stichwort Isolation) – schmiede ich im Moment vage Pläne für eine Bürogemeinschaft mir anderen Solo-Selbstständigen.
3. Du berätst Menschen mit Essstörung. Welche Herausforderungen erlebst du dabei, als Betroffene anderen Betroffenen weiterzuhelfen? Und welche positiven Effekte hat es?
Nora: Eine Herausforderung ist für mich auf jeden Fall, nicht zu vergessen, mich auch um mich zu kümmern. Mir Pausen zu gönnen, nicht zu viele Beratungen an einem Tag zu machen. Ich bin z. B. sehr aktiv mit meiner Instagram-Community in Kontakt und ich liebe das, bin also auch viel am Handy. Manchmal erwische ich mich dabei, dass ich dann auch abends auf der Coach reinschaue, obwohl ich eigentlich runterfahren wollte. Ich merke, dass mein Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung öfter mit meinem Bedürfnis danach, andere nicht warten zu lassen, clasht. Hier muss ich wirklich aufpassen.
Ansonsten erlebe ich meine Selbsterfahrung als unheimlich große Ressource. Ich merke, wie sehr sich die Frauen, die zu mir kommen, öffnen können, weil sie das Gefühl haben, dass ihnen jemand gegenübersitzt, die diese ganze Scheiße kennt. Auf Instagram gehöre ich auch zu den Realistinnen unter den ES-Grammern. Ich denke, dass ist für viele auch wie eine Erleichterung, dass ich nicht so völlig happy-life-filter-bubble rumrenne, sondern mich und meine Erfahrung so zeige, wie ich sie empfinde. Das nimmt den Druck raus, jetzt sofort total gesund und glücklich werden zu müssen.
Für mich auch wirklich großartig ist, zu spüren, dass ich wirklich helfen kann, ohne dass mich die Erlebnisse meiner Klientinnen triggern. Auch das zeigt mir: I’m over it.
4. Wie empfindest du die Berichterstattung und mediale Darstellung von psychischen Erkrankungen?
Nora: Da ich mich beruflich hauptsächlich mit Essstörungen beschäftige, möchte ich dazu etwas sagen: Der Fokus liegt bei diesem Thema hauptsächlich darauf, akut magersüchtige Frauen zu zeigen, sie zu porträtieren. Es gibt jedoch etliche Frauen und auch Männer, die nicht mit einem chronischen Untergewicht leben, deren psychisches Leiden auf Grund einer Essstörung ebenso hoch ist. Essstörungen werden meist immer als typische Magersucht oder typische Bulimie dargestellt. Das Problem sehe ich darin, dass alle anderen Menschen mit Essstörungen sich nicht ernstgenommen fühlen, sich nicht gesehen fühlen. Das führt oftmals dazu, dass die Symptome verstärkt werden, sich Erkrankte keine Hilfe suchen, versuchen, noch „kränker“ zu werden, damit sie sich Unterstützung verdienen.
Was ich oft völlig daneben finde, sind die Headlines, die für Artikel, Reportagen, Features verwendet werden. Sie sind oft reißerisch und treffen mitnichten das eigentliche Problem. Denn Essstörungen sind keine Krankheiten, bei denen die Betroffenen einfach irgendeinem Schönheitsideal nacheifern und dünn sein wollen. Essstörungen sind tiefe seelische Leiden, die oft mit Traumata und tief verankerten Selbstwertproblematiken zusammenhängen.
5. Was wünschst du dir von deinen Mitmenschen? Was speziell von beruflich Schreibenden?
Nora: Von beruflich Schreibenden wünsche ich mir viel mehr Berichte aller möglichen Ausprägungen der Erkrankung – schlicht Diversität. Von Mitmenschen erwarte ich da eigentlich erstmal wenig.
Danke für das Gespräch, liebe Nora! Mehr über Nora Stankewitz und ihre Arbeit erfährst du auf ihrem Instagram-Profil oder ihrer Website. Du möchtest deine Berichte und Texte über psychische Erkrankungen, Belastungen und Behinderungen in Zukunft wertschätzender gestalten? Dann wirf einen Blick in mein kleines 1×1 Vielfalt wertschätzender Sprache zum Thema psychische Erkrankungen.
Bist du auch selbstständig und hast eine psychische Erkrankung oder Behinderung? Hast du Fragen an Nora? Schreib deine Gedanken in die Kommentare!